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„Du sollst nicht missbrauchen“

Pfarrer Helmut Schütz legt die Zehn Gebote als Verbote sexueller Gewalt aus. Er wünscht sich christliche Gemeinden, in denen Opfer sexueller Gewalt eine Zuflucht finden.

Ten Commandments auf einem runden Stein
Die Zehn Gebote in der jüdischen und reformierten Version mit dem Verbot, Bilder von Gott anzubeten, an zweiter Stelle (Bild: Angi YowellPixabay)

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer!

Die meisten von Ihnen werden mich kennen. Seit ziemlich genau 15 Jahren bin ich Pfarrer der Evangelischen Paulusgemeinde, und die Pauluskirche liegt ja nur ein paar Straßen weiter von St. Albertus. Von Jugend an fühle ich mich der ökumenischen Zusammenarbeit herzlich verbunden.

Als Pfarrer arbeite ich mittlerweile seit fast 35 Jahren. Ich habe wohl über 2000 Predigten und Ansprachen in Gottesdiensten, Trauerfeiern und bei Hochzeiten gehalten, aber bei Vorträgen wie diesen habe ich immer noch großes Lampenfieber, denn es geht ja darum, einem mir eher unvertrauten Kreis von Menschen Gedanken zu einem Thema nahezubringen, mit dem man sich in der Regel eher ungern beschäftigt.

Heute hat dieser Vortrag eine ungeahnte furchtbare Aktualität gewonnen. Als ich heute Morgen die Gießener Zeitungen aufschlug, konnte ich es nicht fassen: Ein Mann, den ich von unseren Fünfziger-Stammtischen her kenne, steht unter dringendem Verdacht, Kinder und Jugendliche missbraucht zu haben.

Warum fällt es uns so schwer, uns dem Thema „Missbrauch“ nachhaltig zu stellen, also nicht nur als Modethema, das man ebenso begierig aufgreift und in der Presse durchhechelt, wie man es dann wieder fallen lässt? Ich sehe zwei Hauptgründe:

1. Es ist eine zu furchtbare Realität. Dass Väter, Großväter, Therapeuten, Erzieher, Lehrer, Pfarrer an Kindern, Jugendlichen und sogar Babies sexuelle Übergriffe und Gewalt verüben, das kommt uns so unglaublich vor, dass wir es lieber verdrängen. Trotzdem ist es eine dauerhafte Realität für viele, und ich wäre nicht verwundert, wenn unter uns auch jemand wäre, der in irgendeiner Weise sexuelle Gewalt erfahren hätte. Viele reden aber nicht darüber, weil sie erfahren haben, dass man ihnen nicht glaubt.

Ein Beispiel: Ich besuche eine ältere Frau im Krankenhaus. Sie schimpft auf die Kirche. Ich höre mir lange ihre Vorwürfe an. Schließlich erzählt sie, wie sie als Kind von ihrer Mutter missbraucht wurde und sich um Hilfe an den Pfarrer wandte. Der Pfarrer glaubte nicht ihr, sondern hielt zur Mutter. Viel später versuchte sie wieder einmal, ihr Herz bei einem Pfarrer auszuschütten. Er meinte, sie solle doch nicht nur klagen, und wollte sie mit dem Spruch trösten: „Wen Gott lieb hat, den züchtigt er“. Ich konnte verstehen, dass sie mit der Kirche nichts mehr zu tun haben wollte und war dankbar, dass sie sich trotzdem mir als einem Mann der Kirche anzuvertrauen wagte.

2. Ein zweiter Grund führt dazu, sich dem Thema nur mit Vorbehalten zu stellen. Es ist die Angst vor einem Generalverdacht, als ob man alle Väter, alle männlichen Erzieher, alle Lehrer, alle Pfarrer mit einem gesunden Misstrauen beäugen müsste, ob sie nicht auch zu solch furchtbaren Taten fähig wären. Dass im oben genannten aktuellen Fall nicht nur der Mann im Internet sofort mit vollem Namen vorverurteilt wurde, sondern auch die Partei, der er angehört, gleich mit in Grund und Boden verdammt wurde, ist ein Beispiel für eine solche unangebrachte Verallgemeinerung von Anschuldigungen. Einem solchen Generalverdacht trete ich mit allem Nachdruck entgegen. Fast alle Menschen, weit über 90 Prozent, vergreifen sich nicht sexuell an Kindern oder Schutzbefohlenen. Zwar steht niemandem auf der Stirn geschrieben, wozu er fähig ist. Aber wenn wir jedem nur das Schlimmste zutrauen würden und in Familien, Kindergärten, Schulen, Beratungssituationen und Kirchengemeinden ohne ein Grundvertrauen leben wollten, würde unser Leben zu einer Hölle. Dem weitaus überwiegenden Teil aller Menschen trauen wir mit Recht zu, ein Gewissen zu haben, auf das man auch hört. Leben ohne Vertrauen ist unmöglich. Grundsätzlich brauchen alle Kinder und Jugendlichen erwachsene Menschen, die ihnen in der Familie, im Kindergarten, in der Schule, in Vereinen und kirchlichen Gruppen mit Respekt und Einfühlsamkeit begegnen, so dass sie sich angenommen fühlen und in ihrer Entwicklung gefördert werden.

Vor Jahren hat die Psychagogin Christa Meves einmal einen Generalverdacht gegen junge Väter erhoben, die sich mit ihren Partnerinnen die Babypflege teilen. „Der viele Körperkontakt mit dem Kind bei der Sauberkeitspflege“ stelle für sie eine „sexuelle Versuchung dar“, während dieser bei Müttern „ihre Pflegeinstinkte“ aktivieren würde. Diese Sichtweise ist ideologisch verblendet, denn ich bin überzeugt, dass Kinder die liebevolle Nähe und Zärtlichkeit auch ihrer Väter brauchen und dass fast alle Väter genauso wenig wie die Mütter ihr Kind als Sexualobjekt betrachten.

Und ich füge hinzu: Wenn ein Mensch tatsächlich einen so großen seelischen Schaden hat, dass er Kinder braucht, um eigene sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen, dann kann dieser Jemand auch eine Frau sein. Das heißt: Wenn schon Generalverdacht, dann können wir Frauen nicht von ihm ausnehmen. Leider gibt es auch Frauen, die Kinder missbrauchen; genaue Zahlen gibt es nicht, weil es ja mit guten Gründen kaum hinterfragt wird, was Mütter tun, wenn sie sich allein zu Hause ihrem Kind widmen. Genauer weiß man darüber Bescheid, dass Mütter, die von sexuellen Übergriffen ihrer Partner gegen ihr Kind wissen, häufig nicht dagegen einschreiten. Ich persönlich kenne Frauen, die ihre Beziehung zum missbrauchenden Vater nicht aufgeben wollten, da immerhin eine Art pervertierter Liebe da war, während sie von ihren Müttern nur Kälte und Ablehnung erfuhren. Sie standen ihnen nicht bei, sondern schoben ihnen selber die Schuld an dem Geschehen zu. Das mag ein Grund dafür sein, dass sich manche dieser Frauen lieber mir als männlichem Seelsorger anvertrauten als einer Seelsorgerin oder Psychologin.

Mein Exkurs über Christa Meves und den Missbrauch durch Frauen sollte aber nicht wirklich dazu dienen, einen Generalverdacht sogar auf alle Frauen auszudehnen. Nein, es hilft niemanden, wenn wir unser mitmenschliches Zusammenleben zu einer Hölle machen, in der man niemandem mehr vertrauen darf. Es ist schon schlimm genug, dass Menschen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, tatsächlich in einer solchen Hölle leben – ihnen fällt ein Grundvertrauen zu anderen Menschen verständlicherweise schwer. Nicht zuletzt darum sind viele auf therapeutische Hilfe angewiesen, um neues Vertrauen aufbauen zu können und sich so gut wie möglich vor neuen Enttäuschungen zu schützen.

So viel als lange, aber, wie ich finde, notwendige Vorrede. Betrachten wir also heute die schrecklichen Ausnahmen von der Regel, dass man Eltern, Erzieherinnen, Therapeuten, Lehrerinnen oder Pfarrern normalerweise vertrauen kann. Es geht mir darum, diejenigen nicht zu vergessen, die zu Opfern sexueller Gewalt werden. Das ist besonders dann wichtig, wenn der sexuelle Missbrauch aus der Aufmerksamkeit der Medien wieder einmal heraus ist. Aber das Leiden der Opfer hört ja nicht einfach auf, wenn die Medien mal wieder andere Themen hochkochen. Und die von sexuellen Übergriffen Betroffenen sind mitten unter uns, vielleicht auch einige hier im Saal. Sie haben das Recht, ernstgenommen zu werden, auch wenn sie sich nicht outen möchten, auch wenn sie sich dessen vielleicht nicht einmal bewusst sind, missbraucht worden zu sein, auch wenn sie sich schuldig fühlen für etwas, das ihnen angetan wurde, auch wenn sie meinen, das war ja gar nicht so schlimm.

Ich wünsche mir christliche Gemeinden, in denen auch Opfer sexueller Gewalt eine Zuflucht finden, wo man sie nicht wieder zum Opfer macht und ihnen glaubt, wenn sie den Mut fassen, im vertraulichen Gespräch von ihren Erfahrungen zu berichten.

Ich meine nun, die Zehn Gebote können uns helfen, mit dem so belastenden Thema der sexuellen Gewalt umzugehen.

Das Gebot, in dem in unseren gängigen Bibelübersetzungen, sowohl der Einheits- als auch der Lutherübersetzung, der Satz „Du sollst nicht missbrauchen“ vorkommt, ist je nach der verwendeten Zählung das zweite oder dritte Gebot. In diesem Gebot geht es an sich um den Namen Gottes. Er soll nicht missbraucht werden, wörtlich heißt es im Urtext: „Du sollst den Namen Gottes nicht zu Nichtigem aussprechen“. Was hat dieses Gebot mit dem Missbrauch von Kindern zu tun?

Sehr viel: denn der Name Gottes ist nicht einfach ein beliebiger Eigenname wie bei den antiken Göttermythologien. Unser Gott, der schon der Gott Israels war, heißt nicht Zeus oder Ares oder Athene, Gott ist nicht einer unter vielen, er ist ein Gott, der aus dem Sklavenhaus führt, wie es in der Überschrift der Zehn Gebote heißt. Und als Gott dem Mose seinen Namen offenbart, bleibt dieser Name ein Geheimnis. „Ich bin, der ich bin“, so umschreibt Gott selbst diesen Namen, und in diesem Namen steckt drin, dass Gott für uns da ist, einen Weg mit uns geht, der in die Freiheit führt. Wörtlich heißt der Name Gottes: „ich geschehe, als er ich geschehe“, er ist unverfügbar für Zaubersprüche, die Gott zu beschwören versuchen, indem sie seinen Namen aussprechen, er lässt sich in keine Ideologie, in kein Bild, das wir uns von ihm machen, hineinpressen. Darum sprachen die Juden den Namen Gottes nicht aus, sondern sagten „Adonaj“, „mein Herr“, wo in der Bibel der Name Gottes genannt wurde. Wir haben das übernommen, auch wir nennen Gott den „Herrn“ in unseren Bibelübersetzungen. Wobei wichtig ist: es handelt sich um keinen Herrn im Sinne unserer menschlichen Vorstellungen männlicher Vorherrschaft oder Tyrannei. Der Name Gottes steht für einen Herrn, der Herrschaft von Menschen über Menschen gerade abschafft. Ein befreiender Herr.

Wer den heiligen Namen Gottes missbraucht, der stellt ihn in eine Reihe mit mensch­lichen Herrschern, die ihre Macht ausnutzen, um andere Menschen zu unterdrücken, ihnen ihre Würde zu nehmen, sie zu demütigen und auszubeuten. Der Name Gottes wird Mose nicht zufällig offenbart, als Gott Mose damit beauftragt, sein Volk aus der Unterdrückung in Ägypten zu befreien. Gottes Name steht für Befreiung, Aufrichtung, Liebe im Sinne von Respekt, Achtung, Heilung, Solidarität und Füreinander-da-Sein.

Das heißt: Wer als Vater, Therapeut, Berater oder Erzieher ein Kind oder andere Schutzbefohlene sexuell missbraucht, vergeht sich am heiligen Namen Gottes.

Wer diesen Missbrauch zudem noch als christlicher Vater, als Seelsorger, als Geistlicher begeht, also in den Augen des Opfers gleichsam im Namen Gottes handelt, der steigert den Verrat an Gottes Namen ins Unermessliche, denn das Kind muss sich von Gott selbst missbraucht fühlen und steht in der Gefahr, in seinem Gottvertrauen unwiderruflich geschädigt zu werden. Ich halte es nicht für einen Zufall, dass Jesus sehr hart über einen Menschen urteilt, der „einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zum Abfall verführt“. Er sagt nämlich: „für den wäre es besser, dass ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und er ins Meer geworfen würde, wo es am tiefsten ist.“ (Markus 9, 42) Ich denke, die Öffentlichkeit blickt mit so unverhältnismäßig hoher Aufmerksamkeit gerade auf den Missbrauch, der im kirchlichen Umfeld geschieht, weil man solche Taten von uns Menschen der Kirche am wenigsten erwarten würde. „Einem Pastor muss man doch vertrauen können!“, war der Titel einer holländischen Schrift zum Thema des sexuellen Missbrauchs in evangelischen Kirchen der Niederlande. Wer im Namen Gottes Kindern den Glauben einimpft: „Du bist Schmutz, und darum ist es nur recht, dass du so behandelt wirst“, der zieht den Namen Gottes in den Dreck. Gott wird quasi selber zu einem Gewalttäter gemacht, der Kinder ihrer Würde beraubt und sie in die tiefste Verzweiflung stürzt. Das ist der tiefste Sinn des Gebotes: „Du sollst Gottes Namen nicht zu Nichtigem gebrauchen.“

Dieses Gebot ist nicht das einzige, das sich gegen sexuelle Übergriffe und Gewalt wendet. Im Gegenteil: Alle zehn Gebote schließen den Missbrauch von Menschen für eigene egoistische Zwecke aus. Ich gehe sie der Reihe nach durch und schaue, was sie in unserem Zusammenhang sagen:

Gebot 1: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“ Wichtig ist, dass unmittelbar zuvor der Satz steht: „ich habe dich aus dem Sklavenhaus befreit“. Damit ist Gott gerade kein eifersüchtiger Tyrann, der ein Kind zu einem bestimmten Glauben zwingen will. Das erste Gebot ist die Erlaubnis, allen Menschen den Gehorsam zu versagen, die sich zu Göttern über andere Menschen erheben. Gerade für missbrauchte Kinder ist das eine ganz wesentliche Erlaubnis, denn oft tun ihre Missbraucher so, als seien sie so mächtig und unhinterfragbar wie ein allmächtiger Gott.

Gebot 2 ist für mich nach der Zählung der Juden und der evangelisch-reformierten Kirche der Satz: „Du sollst dir kein Gottesbild machen, das du anbetest!“ Dieses Gebot verbietet nicht, dass wir unsere Vorstellungen von Gott haben. Wir brauchen Bilder von Gott wie das Bild des Vaters, des Herrn, des Befreiers, des Ewigen, des himmlischen Königs, dessen, der uns wie eine Mutter tröstet. Ohne solche Gottesbilder könnten wir mit Gott gar nicht in Kontakt treten. Das Gebot verbietet uns aber, diese Bilder als solche anzubeten und absolut zu setzen. Gott ist immer größer als all unsere Bilder und Gedanken, die wir uns von ihm machen. Dieser Gedanke hilft uns übrigens auch, den Glauben von Menschen anderer Religion in seiner Eigenart zu achten.

In unserem Zusammenhang ist interessant, dass es im Urtext einfach nur heißt: „Du sollst dir kein Bild machen“. Da steht gar nicht ausdrücklich Götterbild. Es mag also nicht nur verboten sein, dass wir uns von Gott, sondern auch von anderen Menschen ein festes Bild machen. Zum Beispiel soll das eigene Kind nicht unser Idol sein im Sinne einer persönlichen Idealvorstellung, zu der hin wir das Kind erziehen, auch wenn das Kind in eine ganz andere Richtung will. Wer Kinder für eigene Interessen ausnutzt, der macht sich in extremer Weise ein Bild von diesem Kind, sei es, dass er diesem Kind sexuelle Triebe andichtet, um seine eigene Perversion zu rechtfertigen, sei es, dass er dem Kind jeglichen Wert abspricht, um es wie Dreck behandeln zu können.

Auf das 3. Gebot in der von mir verwendeten Zählung bin ich schon eingegangen.

Gebot 4: „Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen und jede Arbeit tun. Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin, dein Vieh und der Fremde, der in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt.“ Ich habe deswegen dieses Gebot so ausführlich aus dem Urtext zitiert, weil im Zentrum dieses Gebotes die Freiheit steht. Schabbat heißt wörtlich „Aufhören“, es soll Zeiten geben, in denen für alle Menschen der Zwang zur Arbeit aufhört, für Sklavinnen und Sklaven, für Menschen, die als fremd gelten und sogar für Nutztiere. Wird ein Mensch sexuellem Missbrauch ausgesetzt, dann wird der Grundsatz, dass Menschen arbeiten müssen, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen, in ein unmenschliches Prinzip umgewandelt: bereits Kinder werden benutzt für die Zwecke Erwachsener, und oft genug sagt man ihnen, dass sie kein Lebensrecht haben, wenn sie es sich nicht verdienen. Und wodurch kann sich angeblich ein in dieser Weise entwürdigtes Kind etwas verdienen? Indem es gefügig ist und alles tut, was man von ihm verlangt, bis dahin, dass es sich selber schuldig fühlt für das, was andere ihm antun.

Gebot 5: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.“ Dieses Gebot wurde von Jochen Kuhn einmal „das missbrauchte Gebot“ genannt, weil es manchen Eltern dazu diente, von ihren Kindern blinden Gehorsam zu verlangen, und zwar sogar wenn diese Eltern ihre eigene Fürsorgepflicht gegenüber den Kindern in gröbster Weise verletzen. Demgegenüber gibt es in der Bibel durchaus Gebote für Eltern, die von ihnen Respekt gegenüber den eigenen Kindern fordern, zum Beispiel im Kolosserbrief 3, 21: „Ihr Väter, schüchtert eure Kinder nicht ein, damit sie nicht mutlos werden.“

Weiter zu Gebot 6: „Du sollst nicht morden.“ Ursula Wirtz nannte in einem Buchtitel die sexuelle Gewalt gegen Kinder „Seelenmord“. Wer Kinder missbraucht, zerstört in ihnen seelische Fähigkeiten, die wir alle brauchen, um glücklich leben zu können: das Urvertrauen, die Unbefangenheit und Neugier gegenüber der Welt und anderen Menschen gegenüber.

Manche Opfer sexueller Gewalt werden zeitlebens ihre Gedanken nicht los, sich umbringen zu wollen oder zu müssen, da sie die ihnen zugefügten seelischen Schmerzen nicht auf Dauer aushalten oder meinen, sie hätten tatsächlich kein Recht zu leben. Ich habe bereits Menschen beerdigen müssen, deren Selbsttötung als Spätfolge sexuellen Missbrauchs in der Kindheit angesehen werden kann. Sogar noch nach Jahrzehnten.

Das Gebot 7: „Du sollst nicht die Ehe brechen“ bezieht sich am deutlichsten darauf, dass der Gebrauch der menschlichen Sexualität auf Beziehungen zwischen erwachsenen Partnern beschränkt bleiben soll, die ihr gemeinsames Leben miteinander in Verbindlichkeit, Verlässlichkeit und Treue miteinander führen. Was manche verheirateten Männer mit ihren Kindern tun, ist definitiv auch der Bruch ihrer eigenen Ehe; ich verstehe das Gebot aber in einem weiteren Sinn: Es geht um eine Reinheit, die man früher auch als Keuschheit bezeichnet hat, die nicht mit Sexualfeindlichkeit oder Prüderie zu verwechseln ist, sondern darauf bedacht ist, keinen anderen Menschen als Objekt der eigenen Begierde zu behandeln, es sei denn, der andere Mensch will in einer vertrauensvollen partnerschaftlichen Beziehung so begehrt werden. Wer Kinder verführt oder sogar unterstellt, sie wollten Erwachsene verführen, verstößt ganz klar gegen das Verbot des Ehebruchs.

Das Gebot 8: „Du sollst nicht stehlen“ soll sich ursprünglich gegen den Menschenraub gerichtet haben, wie manche Bibelausleger meinen. Menschenhandel gibt es ja leider auch heutzutage noch gerade im Zusammenhang mit sexueller Ausbeutung im großen Stil. Auf jeden Fall wird bei einem sexuellen Übergriff einem Menschen die eigene Selbstbestimmung geraubt.

Auch das Gebot 9 wird verletzt, wo Menschen sexuelle Übergriffe erleiden: „Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen, kein falsches Zeugnis reden gegen deinen Nächsten.“ Denn jeder Missbraucher flößt seinem Opfer den Glauben ein, es sei selber schuld an dem, was ihm angetan wird. Der Ruf des Opfers wird ruiniert, jede vergewaltigte Frau, jedes missbrauchte Kind fühlt sich schmutzig, traut sich kaum zuzugeben, was ihr, was ihm geschehen ist. Zudem wird die Wahrheit des Übergriffs verleugnet. Ich kenne kaum Missbrauchs­täter, die jemals dazu stehen, was sie getan haben. Ich lernte einmal auf einer Suchtstation einen Mann kennen, der mich fragte, ob Gott alles vergeben könne. Er habe seine Stieftochter missbraucht, aber das sei schon so lange her, und so schlimm sei das nicht gewesen, und sie würde ihn trotzdem immer noch lieben. Ich fand, er sah bei weitem nicht die Tragweite dessen ein, was er bei diesem Mädchen angerichtet hatte, und weigerte mich, ihm einfach so die Vergebung Gottes zuzusprechen. Darauf brach er den Kontakt zu mir ab. Er hatte keine Schuldeinsicht, wollte Absolution ohne Reue, ohne Umkehr, ohne die Wahrheit anzuerkennen, dass die andauernde Liebe seiner Stieftochter seine Taten nicht weniger schlimm machte.

Schließlich das Gebot 10, das letzte nach der reformierten Zählung: „Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgend etwas, das deinem Nächsten gehört.“

Hier wird am deutlichsten, dass diese Gebote ursprünglich in einer Gesellschaft formuliert wurden, in der vom Mann aus gedacht wurde. Patriarchalisch nennt man Verhältnisse, in denen die Macht zur gesellschaftlichen Gestaltung außerhalb des Familienkreises in der Regel den Männern vorbehalten blieb. Darum wird hier nur das Begehren nach der Frau des Nächsten erwähnt. Solche Verhältnisse sind inzwischen bei uns weitgehend überwunden; daher ist es sinnvoll, dieses Gebot allgemein so zu formulieren: „Du sollst nicht begehren, was dein Nächster, deine Nächste hat.“

In den christlichen Kirchen wurde später das Begehren als solches, lateinisch die concupiscentia, zu so etwas wie der Ursünde schlechthin. Wenn wir darunter das eigensüchtige Verlangen verstehen, alles in der Welt für eigene Interessen und eigenen Lustgewinn zu nutzen, statt im Gottvertrauen dankbar aus Gottes Hand anzunehmen, was er uns zugedacht hat, dann macht das durchaus auch heute noch Sinn.

Im Falle sexueller Gewalt wird das verbotene Begehren auf die Spitze getrieben, indem Menschen ihr Begehren auf Kinder oder Schutzbefohlene richten und sie für eigene Bedürfnisse und Interessen auszunutzen.

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